Mindestlohn-Erhöhung: Politische Beliebigkeit statt Autonomie der Tarifpartner
Mit der Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro hebelt die Bundesregierung geltende Beschlüsse aus – und brüskiert die Mindestlohnkommission. Mit diesem Paradigmenwechsel delegiert der Staat seine sozialpolitische Verantwortung an die Tarifpartner.
Die Ampel-Regierung hat ihre Ankündigung aus dem Koalitionsvertrag wahr gemacht und einen Gesetzesentwurf für die Erhöhung des Mindestlohns vorgelegt. Ab dem 1. Oktober 2022 soll eine Lohnuntergrenze von zwölf Euro gelten. Der Gesetzesentwurf verdrängt nicht nur bestehende Tarifverträge, sondern hat auch eine Leitbildfunktion für künftige Tariflohnsteigerungen. Dieser Vorgang soll zwar einmalig sein, lässt sich aber mit einfacher Gesetzgebung jederzeit wiederholen. Die Herangehensweise hebelt das gesetzlich festgelegte Vorschlagsrecht der Mindestlohnkommission auf – damit werden bisher gültige Regeln einer politischen Beliebigkeit geopfert. „Die Mindestlohnkommission wird durch derartige politische Eingriffe einem permanenten Druck ausgesetzt“, sagt IW-Studienautor Hagen Lesch. Dies ließe sich vermeiden, indem die Autonomie der Kommission rechtlich gestärkt würde.
Die Mindestlohnerhöhung könnte für viele Arbeitgeber zum Problem werden. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales nimmt an, dass die Lohnkosten der betroffenen Arbeitgeber 2022 um 1,63 Milliarden Euro steigen würden. Daraus folgende Preiswirkungen können nicht abgeschätzt werden. Damit setzt der Referentenentwurf die finanziellen Auswirkungen sehr niedrig an – Simulationsrechnungen lassen auf deutlich höhere Kosten schließen. So geht das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung von einem Lohnimpuls in Höhe von mindestens neun Milliarden Euro aus. Offenbar erwartet die Regierung starke Ausgleichsmechanismen – möglicherweise durch geringere Arbeitszeiten. Steigen die Arbeitskosten nur so schwach wie vom Bundesarbeitsministerium kalkuliert, ist nicht mit den gewünschten starken Verteilungseffekten zu rechnen.
Ursprünglich sollte der Mindestlohn vor allem dort greifen, wo keine Tarifverträge galten – und so Arbeitnehmer vor unangemessen niedrigen Löhnen schützen. Hier kommt es nun zu einem Paradigmenwechsel: Der Mindestlohn soll bei einer Vollzeiterwerbstätigkeit bedarfsgerecht sein und gleichzeitig helfen, eine armutsvermeidende Rente zu erreichen. Diese Entwicklung lässt allerdings die Einführung der Grundrente außer Acht: Wer über 35 Jahre eine Vollzeitbeschäftigung mit zwölf Euro Mindestlohn ausübt, ist im Alter trotzdem auf die Grundrente angewiesen. „Die Grundrente führt dazu, dass Rentenansprüche bei 35 Jahren Vollzeitbeschäftigung für Stundenlöhne zwischen acht Euro bis knapp 17 Euro kaum variieren“, sagt Mitautor Christoph Schröder. Jemand, dessen Rentenansprüche auf einem Stundenlohn von 10,45 Euro basieren würden, bekäme durch die Grundrente kaum weniger als jemand, dessen Rentenansprüche auf einem Stundenlohn von 12 Euro berechnet werden.
Quelle: IW Köln