Die größten Ängste der Deutschen

Inflation, Rezession, Steuererhöhungen: Die Top-Sorgen der Deutschen drehen sich in diesem Jahr um die Finanzen. Mit Abstand auf Platz eins liegt die Angst vor steigenden Lebenshaltungskosten (67 Prozent). Am stärksten gestiegen ist die Furcht vor einem Krieg mit deutscher Beteiligung. Das zeigt die repräsentative Langzeitstudie „Die Ängste der Deutschen 2022“ des Infocenters der R+V Versicherung.

In fast jedem Lebensbereich spüren die Deutschen drastische Preissteigerungen. „Der bange Blick in den Geldbeutel lässt die finanziellen Ängste in die Höhe schnellen. Insgesamt sind die Menschen deutlich sorgenvoller als noch vor einem Jahr“, sagt Studienleiter Grischa Brower-Rabinowitsch anlässlich der Pressekonferenz zur Studie am 13. Oktober in Berlin. „Der Angstindex – der Durchschnitt aller abgefragten Sorgen – steigt um sechs Prozentpunkte und erreicht mit 42 Prozent das höchste Niveau seit vier Jahren.“ Bereits zum 31. Mal hat das Infocenter der R+V Versicherung in der Studie „Die Ängste der Deutschen“ mehr als 2.400 Menschen nach ihren größten Sorgen rund um Politik, Wirtschaft, Umwelt, Familie und Gesundheit befragt.

Deutschland verzeichnet die höchste Inflation seit fast 50 Jahren. Etwa die Hälfte davon macht der starke Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise aus. Entsprechend groß ist auch die Angst vor explodierenden Lebenshaltungskosten. Mehr als zwei Drittel der Deutschen (67 Prozent) befürchten, dass alles immer teurer wird. „Die Preisspirale macht den Menschen in allen Bevölkerungsschichten Angst. Das gilt für reiche Befragte genauso wie für arme, für Jung und Alt, für Männer wie Frauen und für Anhänger aller Parteien in allen Bundesländern“, erläutert Prof. Dr. Manfred G. Schmidt, Politikwissenschaftler an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Er berät das R+V-Infocenter seit rund zwei Jahrzehnten bei der Auswertung der Ängste-Studie.

„Bemerkenswert ist in diesem Jahr die starke Zunahme der Inflationsangst um 17 Prozentpunkte“, ergänzt Brower-Rabinowitsch. Im Vorjahr lag die Angst vor steigenden Lebenshaltungskosten mit 50 Prozent auf Platz zwei. „Einen solchen Anstieg haben wir bei diesem Thema erst einmal zuvor erlebt. 1993 schnellte die Sorge von 29 Prozent auf 57 Prozent. Grund hierfür war die damalige Talfahrt der deutschen Wirtschaft.“ Die Furcht vor steigenden Lebenshaltungskosten treibt die Deutschen übrigens regelmäßig um. Im Verlauf der Langzeitstudie hat sie schon zwölfmal Platz eins belegt – und damit häufiger als jede andere Sorge. Überraschend: Diese Angst ist im Westen mit 69 Prozent erstmals deutlich ausgeprägter als in Ostdeutschland (59 Prozent).

Auf Platz zwei rangiert mit 58 Prozent die Angst, dass Wohnen unbezahlbar wird. Die Frage ist 2022 neu dabei. „Auch diese Sorge hat reale Grundlagen: ein knappes Angebot, hohe und oftmals weiter steigende Preise sowie eine starke Konkurrenz unter den Wohnungssuchenden“, erklärt Professor Schmidt.

Zuerst die Corona-Lockdowns, dann die Folgen des Ukrainekrieges – Deutschlands Wirtschaft ist im Krisenmodus. 57 Prozent der Bürgerinnen und Bürger fürchten eine Rezession, Platz drei der diesjährigen Studie. Der Vorjahresvergleich zeigt einen ebenso sprunghaften Anstieg um 17 Prozentpunkte wie bei der Angst vor steigenden Preisen. 2021 lag die Furcht vor wirtschaftlicher Verschlechterung noch mit 40 Prozent auf Platz zehn. „Der Dreiklang von Corona-Pandemie, Russlands Krieg gegen die Ukraine und Inflation beeinträchtigt die deutsche Wirtschaft – sie droht in eine Rezession abzurutschen“, erläutert Professor Schmidt.

Platz vier und fünf der Top-Ängste: Vor dem dritten Pandemie-Winter fürchtet immer noch mehr als die Hälfte der Befragten (52 Prozent), dass der Staat wegen der Schuldenlast aus der Corona-Krise dauerhaft Steuern erhöht oder Leistungen kürzt (Platz vier). 2021 war dies mit 53 Prozent noch die größte Angst der Befragten. Ähnlich groß wie im Vorjahr bleibt mit 51 Prozent die Furcht, dass die Steuerzahler für die EU-Schuldenkrise zur Kasse gebeten werden (Platz fünf; 2021: 50 Prozent, Platz drei).

Kriegsangst steigt extrem
„Nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wollten wir wissen: Haben die Deutschen Angst davor, dass autoritäre Herrscher weltweit immer mächtiger werden?“, berichtet Brower-Rabinowitsch. Die Antwort lautet „Ja“ – die Sorge landet mit 47 Prozent direkt auf Platz sieben. „Weltweit beobachten wir schon seit geraumer Zeit eine Autokratisierungswelle, zum Teil auch in demokratischen Staaten“, analysiert Professor Schmidt. „Ein besonders krasser Fall für eine militante Autokratie ist Russland mit Putin an der Spitze und dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine.“

Einen Krieg mit deutscher Beteiligung fürchten 42 Prozent der Bürgerinnen und Bürger (Platz zwölf). Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein enormer Zuwachs um 26 Prozentpunkte (2021: 16 Prozent, Platz 21). Einen derart extremen Anstieg gab es in den drei Jahrzehnten der Langzeitstudie überhaupt erst zweimal. Dazu Professor Schmidt: „Nach vielen Jahrzehnten Frieden erschien ein Krieg mit deutscher Beteiligung für viele undenkbar. Russlands Angriff auf die Ukraine hat diesen Glauben zerstört. Nun wächst die Befürchtung, Deutschland werde in einen Krieg verwickelt.“ Einen ähnlich großen Anstieg dieser Angst gab es zuletzt 1999 infolge des Kosovo-Krieges. Damals schnellte sie von 24 Prozent auf 60 Prozent.

Umweltängste nehmen zu
Hitzerekorde und historische Trockenheit: Nach dem Dürresommer 2022 fürchtet fast jeder zweite Befragte Wetterextreme und Naturkatastrophen (49 Prozent, Platz sechs). Das ist ein klarer Anstieg im Jahresvergleich (2021: 41 Prozent, Platz acht). Spürbar wächst auch die Angst vor dem Klimawandel. Sie landet mit 46 Prozent auf Platz acht (Vorjahr: 40 Prozent, Platz elf). „Vor einigen Jahren war ein heißer, regenarmer Sommer in Deutschland noch ein Grund zur Freude. Jetzt erleben wir alle die negativen Folgen unmittelbar – Waldbrände werden häufiger, Flüssen fehlt Wasser und die Natur insgesamt leidet“, sagt Studienleiter Grischa Brower-Rabinowitsch. „Auch die Flutkatastrophe an der Ahr und in der Eifel vor einem Jahr ist den Menschen noch präsent.“

Großer Ost-West-Unterschied bei Zuwanderungsthemen
Mehr als eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer wurden seit Kriegsbeginn in Deutschland registriert. Trotzdem ist die Furcht vor einer Überforderung des Staates durch die Zahl der Geflüchteten gleich geblieben (45 Prozent), aber im Ranking von Platz vier auf Platz neun gerutscht. Die Sorge, dass es durch weitere Migration zu Spannungen kommt, liegt mit 37 Prozent nur noch auf Platz 16 (2021: 42 Prozent, Platz sieben). Allerdings sind die Unterschiede zwischen Ost und West bei beiden Ängsten groß. In Westdeutschland fürchten 43 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, dass die Zahl der Geflüchteten den Staat überfordert. Im Osten ist es mehr als die Hälfe der Befragten (54 Prozent). Aber auch in Ostdeutschland nimmt diese Angst ab, wirtschaftliche Sorgen haben sie von Platz eins auf Platz fünf verdrängt. Konflikte durch den weiteren Zuzug von Ausländerinnen und Ausländern fürchten im Westen 35 Prozent der Befragten (Platz 16), im Osten sind es hingegen 44 Prozent (Platz zwölf).

Weitere Ergebnisse der R+V-Studie in Kurzform:
+ Arbeitslosigkeit: Die Angst vor dem Verlust des eigenen Jobs sinkt auf 22 Prozent (Platz 21; Vorjahr: 24 Prozent, Platz 18) und erreicht damit den niedrigsten Stand im Verlauf der Studie. Dass bundesweit die Arbeitslosenzahlen steigen, besorgt etwa jeden Dritten (34 Prozent, Platz 18).
Überforderung der Politik (Platz 10): Das Vertrauen der Deutschen in ihre Politikerinnen und Politiker ist traditionell schlecht. So fürchten 44 Prozent, dass diese von ihren Aufgaben überfordert sind (2021: 41 Prozent, Platz neun). Angesichts der zahlreichen Krisen eine geringe Steigerung gegenüber dem Vorjahr.
+ Pflegebedürftigkeit (Platz 13): Obwohl die Angst vor Pflegebedürftigkeit nur leicht gesunken ist (41 Prozent; Vorjahr: 43 Prozent), verliert diese Furcht ihren Platz unter den Top Ten (2021: Platz sechs). Andere Themen bereiten den Deutschen weit größere Sorgen.
Schwere Erkrankung / Corona-Infektion (Platz 19): Die Angst vor einer schweren Erkrankung und einer Corona-Infektion bleibt mit 33 Prozent auf niedrigem Niveau (Vorjahr: 35 Prozent, Platz 14).
+ Störfälle in Atomkraftwerken (Platz 20): Die neu entfachte Debatte über Kernenergie und die Kämpfe um ein Atomkraftwerk in der Ukraine schlagen sich nicht auf die Ängste der Deutschen nieder. Wie schon im Vorjahr fürchtet nur knapp ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger (30 Prozent) Störfälle in den Atomkraftwerken.

Über die Studie
„Die Ängste der Deutschen“ ist die bundesweit und international einzige Umfrage, die sich seit 30 Jahren mit den Sorgen der Bevölkerung befasst. Seit 1992 befragt das R+V-Infocenter jährlich in persönlichen Interviews rund 2.400 Männer und Frauen der deutschsprachigen Wohnbevölkerung im Alter ab 14 Jahren nach ihren größten politischen, wirtschaftlichen, persönlichen und ökologischen Ängsten. Die repräsentative Umfrage findet immer im Sommer statt – dieses Mal lief sie vom 13. Juni bis 23. August 2022. Die wichtigsten Ergebnisse zur Ängste-Studie der R+V sind unter www.die-aengste-der-deutschen.de aufbereitet.

Quelle: R+V Versicherungen