Reine Berufsorientierung oder umfassende Lebensorientierung? Ein Plädoyer für eine neue Perspektive auf unsere Berufliche Orientierung

Seit vielen Jahren wird die berufliche Orientierung in deutschen Schulen immer wichtiger. Der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt ist ein zentrales Thema, das sich kontinuierlich weiterentwickelt und an neue Rahmenbedingungen angepasst hat. Heute erkennen wir jedoch, dass sich die Gesellschaft, die Menschen und somit auch die Schülerinnen und Schüler erheblich verändert haben. Es fällt zunehmend schwer, sich auf ein Thema zu konzentrieren, soziale Kompetenzen zu entwickeln, dialog- und konfliktfähig zu sein sowie fundierte Entscheidungen zu treffen. Diese Beobachtungen legen nahe, dass eine reine Berufsorientierung nicht mehr ausreicht; vielmehr bedarf es einer umfassenden Lebensorientierung. Warum ist das so, und welche Vorteile bringt dies für Unternehmen?

Der Düsseldorfer Stadtdirektor deutete bei der diesjährigen Verleihung der Berufswahlsiegel in Düsseldorf eine neue Richtung in der Beruflichen Orientierung an: weg von der reinen Berufsorientierung, hin zu einer umfassenden Lebensorientierung. Foto: W. Meyer

Von Christoph Sochart

Veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Die Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten rapide verändert. Globalisierung, Digitalisierung und technologische Fortschritte haben die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, grundlegend verändert. Diese Veränderungen haben auch Auswirkungen auf die Anforderungen, die an zukünftige Arbeitskräfte gestellt werden:

1. Digitalisierung und Technologisierung: Der rasante technologische Fortschritt erfordert von Arbeitnehmern eine hohe Flexibilität und kontinuierliche Lernbereitschaft. Technische Kompetenzen allein reichen nicht mehr aus; es sind auch digitale und technologische Fähigkeiten erforderlich.
2. Globalisierung: Die Welt ist vernetzter denn je. Interkulturelle Kompetenzen und Fremdsprachenkenntnisse sind in vielen Berufsfeldern unverzichtbar geworden.
3. Komplexität und Unsicherheit: Die Arbeitswelt ist dynamischer und komplexer geworden. Dies erfordert von den Arbeitnehmern eine erhöhte Anpassungsfähigkeit und die Fähigkeit, unter Unsicherheit fundierte Entscheidungen zu treffen.

Veränderungen bei Schülerinnen und Schülern

Auch die Schülerinnen und Schüler haben sich verändert. Sie wachsen in einer digitalisierten und globalisierten Welt auf, die ihnen einerseits viele Chancen bietet, andererseits aber auch neue Herausforderungen mit sich bringt:

1. Konzentrationsfähigkeit: Die permanente Verfügbarkeit von Informationen und Unterhaltungsangeboten hat die Konzentrationsfähigkeit vieler Schüler negativ beeinflusst. Die Fähigkeit, sich längere Zeit auf ein Thema zu fokussieren, hat nachgelassen.
2. Soziale Kompetenzen: Durch die vermehrte Kommunikation über digitale Kanäle haben viele Schüler Schwierigkeiten, persönliche Beziehungen zu pflegen und soziale Kompetenzen zu entwickeln.
3. Entscheidungsfindung: Die Vielzahl an Möglichkeiten und der Druck, immer die „richtige“ Entscheidung zu treffen, überfordert viele junge Menschen. Sie haben Schwierigkeiten, klare und fundierte Entscheidungen zu treffen.

Die Notwendigkeit einer Lebensorientierung

Angesichts dieser Veränderungen reicht eine reine Berufsorientierung nicht mehr aus. Eine ganzheitliche Lebensorientierung, die sowohl berufliche als auch persönliche Kompetenzen fördert, ist unerlässlich. Lebensorientierung bedeutet:

1. Entwicklung sozialer Kompetenzen: Die Schüler lernen, wie man effektiv kommuniziert, Konflikte löst und im Team arbeitet. Diese Fähigkeiten sind nicht nur im Beruf, sondern auch im privaten Leben essenziell.
2. Selbstmanagement und Resilienz: Die Schüler werden in die Lage versetzt, sich selbst zu organisieren, mit Stress umzugehen und Rückschläge zu bewältigen. Diese Fähigkeiten sind in einer komplexen und unsicheren Welt von unschätzbarem Wert.
3. Kritisches Denken und Entscheidungsfähigkeit: Die Schüler lernen, Informationen kritisch zu hinterfragen und fundierte Entscheidungen zu treffen. Dies hilft ihnen, sowohl im Beruf als auch im Alltag kompetent zu handeln.
4. Ethik und Verantwortung: Eine Lebensorientierung fördert das Bewusstsein für ethische Fragestellungen und die Übernahme von Verantwortung, sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext.

Vorteile für Unternehmen

Eine Lebensorientierung in der Schule bringt auch für Unternehmen zahlreiche Vorteile:

1. Bessere Vorbereitung auf die Arbeitswelt: Schüler, die umfassend auf das Leben vorbereitet sind, bringen bereits wichtige soziale und persönliche Kompetenzen mit, die im Berufsleben unerlässlich sind. Dies erleichtert die Einarbeitung und Integration in das Unternehmen.
2. Höhere Mitarbeiterzufriedenheit: Mitarbeiter, die über gute Selbstmanagement- und Resilienzfähigkeiten verfügen, sind zufriedener und leistungsfähiger. Sie sind besser in der Lage, mit Stress umzugehen und Herausforderungen zu meistern.
3. Förderung von Innovation und Kreativität: Unternehmen profitieren von Mitarbeitern, die kritisch denken und kreative Lösungen entwickeln können. Dies ist besonders in Zeiten schnellen technologischen Wandels von Vorteil.
4. Stärkung der Unternehmenskultur: Mitarbeiter, die über ausgeprägte soziale Kompetenzen verfügen, tragen zu einer positiven und konstruktiven Unternehmenskultur bei. Dies fördert die Zusammenarbeit und das gemeinsame Erreichen von Zielen.

Fazit

Die Integration einer umfassenden Lebensorientierung in die schulische Ausbildung ist eine notwendige Reaktion auf die veränderten gesellschaftlichen und individuellen Rahmenbedingungen. Sie fördert die Entwicklung von Kompetenzen, die weit über die reine Berufsvorbereitung hinausgehen und sowohl für das persönliche Wohlbefinden als auch für den beruflichen Erfolg entscheidend sind. Unternehmen profitieren von besser vorbereiteten, flexibleren und zufriedeneren Mitarbeitern, die in der Lage sind, den Herausforderungen einer modernen Arbeitswelt erfolgreich zu begegnen. Eine solche ganzheitliche Bildungsstrategie ist daher ein Gewinn für alle Beteiligten – Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Eltern und Unternehmen.

Zitate von Ausbilderinnen und Ausbildern zur Notwendigkeit einer Lebensorientierung

In unserem „Weekender Düsseldorfer Wirtschaft“ fragten wir unsere Leserinnen und Leser nach ihrer persönlichen Meinung. Diese Zitate verdeutlichen, wie wichtig eine umfassende Lebensorientierung für die moderne Arbeitswelt ist und welche konkreten Vorteile sie für verschiedene Branchen und Berufsfelder mit sich bringen kann.

Anna, Ausbilderin in einem mittelständischen IT-Unternehmen:
„Ich merke oft, dass viele junge Menschen, die zu uns kommen, hervorragende technische Fähigkeiten haben, aber Schwierigkeiten im Umgang mit Kollegen und in der Kommunikation. Eine umfassende Lebensorientierung könnte hier wirklich helfen, diese sozialen Kompetenzen zu stärken und den Übergang in die Arbeitswelt zu erleichtern.“

Max, Ausbilder in einem großen Produktionsbetrieb:
„Früher haben wir uns hauptsächlich auf die fachliche Ausbildung konzentriert. Heute sehe ich, dass auch Fähigkeiten wie Resilienz und Selbstmanagement immer wichtiger werden. Schüler, die diese Kompetenzen bereits in der Schule lernen, sind später deutlich besser für die Herausforderungen der Arbeitswelt gewappnet.“

Julia, Ausbilderin in einem internationalen Handelsunternehmen:
„Interkulturelle Kompetenz ist in unserem Unternehmen ein Muss. Schüler, die eine umfassende Lebensorientierung erhalten haben, tun sich hier viel leichter, weil sie bereits gelernt haben, über den Tellerrand zu schauen und in globalen Zusammenhängen zu denken.“

Michael, Ausbilder in einem Handwerksbetrieb:
„Entscheidungsfähigkeit und die Fähigkeit, eigenständig zu arbeiten, sind in unserem Handwerk unerlässlich. Leider sehe ich oft junge Menschen, die damit überfordert sind. Eine Schule, die nicht nur Berufswissen, sondern auch Lebenskompetenzen vermittelt, wäre hier eine große Hilfe.“

Sabine, Ausbilderin in einer Bank:
„Bei uns sind Kommunikationsfähigkeiten und Kundenorientierung extrem wichtig. Viele Schulabgänger haben jedoch Schwierigkeiten, mit Kunden professionell zu interagieren. Eine stärkere Ausrichtung der Schule auf Lebensorientierung könnte hier Abhilfe schaffen.“

Thomas, Ausbilder in einem Ingenieurbüro:
„Wir brauchen Mitarbeiter, die nicht nur technisches Know-how mitbringen, sondern auch kreativ und innovativ denken können. Eine Lebensorientierung, die auch kritisches Denken und Problemlösungsfähigkeiten fördert, wäre für uns von großem Vorteil.“