ifaa: Möglichkeiten für Mobile Arbeit in Deutschland bei weitem nicht ausgeschöpft
Kommentar des Direktors des ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft zum aktuellen Gutachten zur mobilen Arbeit – https://www.arbeitswissenschaft.net/angebote-produkte/publikationen/azv-pub-gutachten-zur-mobilen-arbeit/
In einem aktuellen Gutachten weist das in Düsseldorf beheimatete ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e.V. daraufhin, dass sich in Zukunft der Anteil der Beschäftigten, die orts- und zeitflexibel arbeiten werden, noch weiter stark erhöhen wird. Immer mehr Beschäftigte wollen ihren Arbeitsort, ihre Arbeitszeit und ihre Arbeitsaufgaben selbstständig organisieren und somit das Arbeits- und Privatleben besser miteinander vereinbaren. Die Arbeitsforschung erwartet, dass orts- und zeitflexible Arbeit immer mehr zum Normalfall für einen Großteil der Beschäftigten wird.
Dazu erklärt Prof. Dr. Sascha Stowasser:
„In unserer Studie zeigen wir, dass gegenwärtig die Möglichkeiten für Mobile Arbeit in Deutschland bei weitem nicht ausgeschöpft werden, obwohl die digitalen Technologien es ermöglichen, orts- und zeitflexibel zu arbeiten. Damit weitere Beschäftigte und Unternehmen die Mobile Arbeit nutzen können, ist es wichtig, gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen, gesetzliche Regelungen, technologische und arbeitsorganisatorische Infrastrukturen in Unternehmen sowie Chancen und Risiken zu thematisieren.“
Mit unserer Übersichtsstudie widersprechen wir der zum Teil aktuell vorliegenden skeptischen Berichterstattung zur Mobilen Arbeit. Wir konnten nicht belegen, dass die zeit- und ortsflexible Arbeit eine Reihe von Nachteilen mit sich bringt und eine größere psychische Belastung als das Arbeiten im Unternehmen mit festen Anwesenheitszeiten darstellt. Verschiedene ausgewertete Studienergebnisse weisen auf ein positives Bild und das enorme Potenzial der Mobilen Arbeit hin. Die Beschäftigten empfinden den geringeren Aufwand des Pendelns zum Arbeitsplatz, die bessere Vereinbarkeit zwischen Arbeitszeit und Privatleben sowie die gespürte bessere „Qualität“ der Arbeitsblöcke –die Tätigkeiten lassen sich besser erledigen –als wichtige positive Errungenschaften der Mobilen Arbeit. Auch im Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte kann Mobile Arbeit einen wesentlichen Attraktivitätsfaktor für das Unternehmen darstellen.
Neben den Chancen für Beschäftigte und Unternehmen leistet Mobile Arbeit einen wichtigen Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz. Als Effekt der Mobilen Arbeit können in ländlichen Regionen und Ballungsgebieten, die durch starke Ballungseffekte geprägt sind, umfassende Pendlerströme, Arbeitswege, Fahrtzeiten und der CO2-Ausstoß reduziert werden. Nach unseren Berechnungen sind enorme Einsparpotenziale in Bezug auf CO2, Fahrtzeit, Spritkosten und Abnutzung des Autos zu erwarten. In der Öffentlichkeit sind diese umweltpolitischen Aspekte weniger bekannt.
Eine Dramatisierung der Mobilen Arbeit sowie deren angeblichen negativen Folgen sind unbedingt zu vermeiden. Bestehende Risikofaktoren, wie eine schleichende Ausweitung von Arbeitszeit und unbezahlter Arbeit sowie interessierte Selbstgefährdung, lassen sich schon heute durch lösungsorientierte, betriebliche Regelungen reduzieren. Im Mittelpunkt der Diskussionen sollte ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Zeitsouveränität und betrieblichen Belangen stehen. Ziel muss es also sein, die unterschiedlichen Interessen der Unternehmen und der Beschäftigten in Einklang zu bringen. Deshalb sollten die Arbeitgeber gemeinsam mit ihren Beschäftigten entscheiden, ob (bei weitem nicht jede Tätigkeit kann orts- und zeitflexibel ausgeübt werden, z. B. Produktion, Handwerk, Pflege) und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen orts- und zeitflexibel gearbeitet wird.
Mobile Arbeit basiert aus unserer Sicht auf der „doppelten Freiwilligkeit“, das heißt beide –sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer –einigen sich auf die „Spielregeln“ und finden im allgemeinen betriebsspezifische Lösungen. Flexibles Arbeiten mit freier Zeit- und Ortswahl erfordert klare Strukturen. Eine Kultur des Vertrauens, verbindliche Absprachen, Planbarkeit und Eigenverantwortung gehören ebenso dazu. Pauschal formulierte Regeln liefern keine Antwort auf neue Herausforderungen. In der Praxis existieren zahlreiche positive betriebliche Lösungsansätze, Best-Practice-Beispiele, überbetriebliche Netzwerke und Handlungshilfen.
So enthält zum Beispiel der neue Tarifvertrag zum Mobilen Arbeiten in der Metall- und Elektroindustrie Rahmenregelungen für Beschäftigte, die zeitweise oder regelmäßig außerhalb des Betriebes tätig werden. In unserer Studie zeigen wir, dass gegenwärtig die Möglichkeiten für Mobile Arbeit in Deutschland bei weitem nicht ausgeschöpft werden, obwohl die digitalen Technologien es ermöglichen, orts- und zeitflexibel zu arbeiten. Damit weitere Beschäftigte und Unternehmen die Mobile Arbeit nutzen können, ist es wichtig, gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen, gesetzliche Regelungen, technologische und arbeitsorganisatorische Infrastrukturen in Unternehmen sowie Chancen und Risiken zu thematisieren. Was muss in der Politik hierzu gelöst werden?
Die aktuellen Arbeitszeitregelungen und Arbeitsschutzbestimmungen basieren auf einem Normalarbeitsstandard mit geregelten Arbeitszeiten (z. B. 8-Stunden-Tag) und festen Arbeitsorten. Diese aus industrieller Anfangszeit stammenden Arbeitsmodelle passen nicht mehr in die Arbeitswelt 4.0 mit orts- und zeitflexibler Arbeit. Das bestehende Arbeitsrecht mit seinen veralteten und verkrusteten Regelungen (beispielsweise starr geblockten Ruhezeiten) muss an die neuen Realitäten, arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen sowie die Bedarfe von Beschäftigten und Unternehmen angepasst werden. Ein weiteres Augenmerk sollte auf der flächendeckenden Vermittlung von IT-Kompetenzen liegen. Digitale Technologien ermöglichen über alle Altersgruppen hinweg flexibles, zeit- und ortsunabhängiges Arbeiten und lebenslanges Lernen. Hier besteht Bedarf an Qualifizierungen auf allen Stufen des Bildungssystems. Bildung in der digitalen Welt ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die ein gemeinsames Handeln aller gesellschaftlichen Akteure erfordert.“
Für den Auftraggeber kommentiert FDP-Arbeitsmarktexperte Johannes Vogel (MdB) die Ergebnisse folgendermaßen:
„Eine Arbeitswelt, in der mehr Menschen orts- und zeitunabhängiger arbeiten können, ist ein Gewinn für alle. In der gesellschaftlichen Debatte wird noch zu wenig über Homeoffice diskutiert – und leider noch weniger über die Chancen für den Klimaschutz. Das Gutachten bestätigt drei Dinge:
Das mobile Arbeit und das Arbeiten im Homeoffice können einen echten Beitrag zum Klimaschutz leisten. Dieser Aspekt wird in der gesellschaftlichen Debatte noch viel zu wenig beachtet.
Immer mehr Beschäftigte wollen flexibler arbeiten. Diesen Veränderungen muss die Politik gerecht werden: Mit einem „Recht auf Homeoffice“ nach niederländischem Vorbild und einem modernen Arbeitszeitgesetz, das in die heutige Zeit passt. Dort, wo es sinnvoll ist, soll freier entscheiden werden, wann man wie und von wo arbeitet.
Drittens, müssen wir in der gesellschaftlichen Debatte endlich die offensichtlichen Chancen diskutieren, und uns nicht immer nur in German-Angst-Manier auf die Risiken beschränken. Bisher gibt die Politik keine konkreten Antworten. Wir müssen in Deutschland wieder mehr über die Chancen der Zukunft sprechen. Wir müssen die Chancen gestalten und nutzen wollen.“